Nichts tun ist das beste
Als ich die Gesellenprüfung bestanden hatte, rief mich der Chef der Firma Fries Sohn, Remy Eyssen, wieder zu sich und fragte, wann ich nun die Firma verlassen wolle. Sein Drängen war verständlich, denn im Jahr der Kristallnacht hatte sich die Lage der Juden katastrophal verschlechtert. Neben einer Vielzahl wirtschaftlicher Sanktionen waren der Kennkartenzwang, die zusätzlichen Vornamen Sarah und Israel sowie das große J in den Reisepässen für Juden eingeführt und alle jüdischen Kinder von deutschen Schulen entfernt worden. Gefängnis und Zuchthaus drohten den Deutschen, die Juden halfen oder sie beschützten.
Remy Eyssen befand sich in einer äußerst schwierigen Lage. Mit jeder neuen Schikane gegen Juden, jeder neuen Strafverschärfung für unerlaubte Hilfe vergrößerte sich sein Risiko, und erst recht durch meine Antwort, daß ich nicht genau wisse, wann ich Fries verlassen würde.
Erregt beugte er sich in seinem Sessel vor: »Wieso wissen Sie das nicht? Das war so vereinbart!«
»Das stimmt«, gab ich verlegen zur Antwort, »aber mittlerweile hat sich einiges verändert.«
»Was hat sich verändert? Liegt Palästina nicht mehr da, wo es vor einem Jahr lag?« Mit dieser unbedachten Bemerkung hatte er das erste Mal etwas über mein Judentum gesagt. Aber ich merkte, daß es ihm sofort wieder leid tat. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Sie mißbrauchen meine Hilfsbereitschaft auf eine miserable Weise.« Mit gesenktem Kopf, als denke er nach, ging er einige Schritte hin und her und sagte dann: »Sie können gehen.«
Voller Schuldgefühle schlich ich mich davon. Auch wenn ich es wirklich vorgehabt hätte, wäre es viel zu spät gewesen, nach Palästina auszuwandern, denn würde ich mich jetzt darum bemühen, brächte ich meine ganze Familie ins Verderben. Wir hatten uns nie als Juden gemeldet und damit gegen eine Reihe von Judengesetzen verstoßen. Ein Antrag auf Ausreise würde alle unsere Verfehlungen aufdecken. Selbst ein Firmenwechsel mit den unumgänglichen Formalitäten könnte leicht zu unserer Entlarvung führen.
Was Remy Eyssen auch tun würde, es mußte seine Situation verschlechtern. Und er tat das Anständigste, das für ihn Gefährlichste und das für mich Günstigste, nämlich nichts. Bald darauf schickte er mich wieder ins Werk Süd zurück. Nun war ich ihm wenigstens aus den Augen.
Ich hatte das Glück, an meinem neuen alten Arbeitsplatz zu einigen Kollegen Kontakt zu finden, denen Hitler und das Dritte Reich ebenso zuwider waren wie mir. Es kostete mich einige Mühe, ihre politische Gesinnung zu erkunden und allmählich ihr Vertrauen zu gewinnen.
Schließlich waren wir sieben oder acht politisch Gleichgesinnte, die regelmäßig Informationen austauschten, Tagesereignisse diskutierten und sich auch mal außerhalb der Arbeitszeit trafen. Eine kleine antifaschistische Zelle war entstanden. Zu ihr gehörten der Leiter der Aufzugsabteilung Bernhard Fröhlich und ein bei ihm tätiger Ingenieur, und wir konnten uns auch in Gegenwart der Abteilungssekretärin offen unterhalten. Ferner gehörten dazu: Heinz Kreuter, mit dem mich viele Jahre eine Freundschaft verband, ein Heizungstechniker, der mit mir die Gesellenprüfung gemacht hatte, ein älterer Pförtner, zwei Heizungsmonteure, und ab 1940 Irmgard Dröll, die in meinem späteren Leben eine besondere Rolle spielen sollte.
Wann immer ich an meine Arbeit im Werk Süd zurückdenke, wo ich bis 1944 bleiben und sogar zum Betriebsleiter aufsteigen konnte, fallen mir zwei Affären ein, die mir leicht hätten zum Verhängnis werden können. Sie veranschaulichen, wie der Dauerzustand Angst mir so zur Gewohnheit wurde, mich so leichtsinnig machte, daß ich die Gefahr vergaß und glaubte, wie jeder andere legale Bürger leben zu können. Vielleicht hat auch dieses Phänomen zu unserem Überleben beigetragen.
Mit der Einführung von Bezugskarten für Tabak und Zigaretten ergab sich für mich ein ernstes Versorgungsproblem, denn die tägliche Zuteilung betrug im günstigsten Fall zehn, später nur noch fünf oder gar drei Zigaretten. Den Fehlbedarf mußte sich ein starker Raucher, und ich war einer, teuer von Nichtrauchern oder auf dem schwarzen Markt beschaffen. Je knapper die Zuteilungen wurden, umso schneller stiegen die Schwarzmarktpreise. Sie betrugen schließlich das Vier- bis Fünffache der Ladenpreise, vorausgesetzt, man hatte eine Bezugsquelle.
Ich war mit der Besitzerin eines Tabakwarenladens in der Schulstraße, der schwarzen Thekla, seit Jahren bekannt und hatte darum nie Beschaffungs-, sondern ausschließlich Finanzierungssorgen, denn die geschäftstüchtige Thekla verlangte auch von mir den Schwarzmarktkurs. Da fiel mir etwas ein. Die Bezugskarten hatten dreißig Nummernfelder, von denen immer nur ein Teil zum Kaufen von Tabakwaren aufgerufen wurde. Eigentlich könnte es nicht schwer sein, überlegte ich, mit Radiermesser, Feder und Tusche die ungültigen Nummern in gültige umzuwandeln, zum Beispiel eine Sieben in eine Eins, eine Drei in eine Acht, eine Acht in eine Drei, eine Neun in eine Null, und so weiter. Ich probierte es aus und legte der schwarzen Thekla einige Musterkorrekturen vor. Es war eine saubere Arbeit, und Thekla ließ sich mit mir auf einen riskanten Handel ein. Sie übergab mir jeweils kleinere Posten der Karten, die sie von ihren Kunden in Verwahrung hatte, und ich veränderte die Zahlen entsprechend den Aufrufen. Dafür erhielt ich ein Drittel der durch meine Manipulation zusätzlich gewonnenen Zigaretten. Thekla gab mir immer mehr Karten zum Korrigieren. Doch es war ein Stoßgeschäft, weil wir immer auf die Aufrufe warten mußten. Darum versuchte ich auch schon mal während der Mittagspause, wenn ich allein im Konstruktionsbüro war, die Karten zu präparieren. Näherte sich jemand, deckte ich sie schnell mit einem Zeichenblatt ab. Einmal aber war es zu spät. Bevor ich sie verschwinden lassen konnte, stand Prokurist Metz hinter mir. »Was soll das? Radieren Sie etwa an der Zigarettenkarte herum?«
»Nein, nein, ich habe nur versucht...«
»Versucht?« Er riß die Karte unter der Reißbrettschiene hervor und hielt sie sich vor die kurzsichtigen Augen. »Sie sind wohl wahnsinnig! Dafür können Sie ins Zuchthaus kommen! Wegen ein paar lächerlicher Glimmstengel bringen Sie sich um Kopf und Kragen! Mensch, Senger, lassen Sie die Finger davon!« Er warf die Karte auf das Zeichenbrett zurück. Ein Glück, daß alle anderen Arbeitskollegen zu Tisch waren und uns niemand beobachten konnte.
Die nächsten Tage verbrachte ich voller Angst, doch Prokurist Metz zeigte mich nicht an. Mir war die Lust am Fälschen von Zigarettenkarten gründlich vergangen.
Noch leichtsinniger allerdings benahm ich mich ein Jahr später, als ein Arbeiter mir, seinem Vorgesetzten, gefälschte Lebensmittelkarten übergab, sogenannte Reise- und Gaststättenmarken, die von englischen Flugzeugen abgeworfen worden waren. Ich mußte sie der Polizei abliefern, eine andere Verwendung war bei Todesstrafe verboten. Es mögen etwa zehn Bogen gewesen sein, die von den echten Karten nicht zu unterscheiden waren. Ich lieferte jedoch nur die Hälfte ab, die andere Hälfte behielt ich für mich. Zwei Bogen tauschte ich sogar bei der schwarzen Thekla gegen Zigaretten ein, ohne ihr zu sagen, woher sie stammten.
Mein Freund und Arbeitskollege Heinz Kreuter heiratete im Juni 1944 Irmgard Dröll, die zu unserer illegalen Betriebszelle gehörte. Ich war sehr traurig darüber, denn sie war durch mich nicht nur zur Antifaschistin geworden, ich hatte sie auch sehr gern. Aber die von Mama geprägten Verhaltensweisen hinderten mich daran, ihr meine Liebe zu gestehen. So ging ich denn als Trauzeuge mit aufs Standesamt. Doch nicht nur deshalb ist mir die Hochzeitsfeier in guter Erinnerung geblieben, sondern wegen der interessanten Zusammensetzung einer politischen Tischrunde, die übrigblieb, als sich am Abend die Verwandtschaft zurückzog. Am Kopf des Tisches saß Pfarrer Grimm von der Johannisgemeinde, der die Judenverfolgungen und die Euthanasie verurteilte und deswegen schon im Gefängnis gesessen hatte, dann das Brautpaar unserer illegalen Zelle, mein Bruder Alex, der mit Irmgards Schwester befreundet war, und ich, der Trauzeuge; eine Gesellschaft, die den Nazis gewiß für einige Jahrzehnte Zuchthaus oder KZ gut war und die bis weit nach Mitternacht die politische Lage besprach und sich darüber einig war, daß der Zusammenbruch des Hitlerregimes in greifbarer Nähe liege.
Fünf Jahre später wurde Irmgard dann doch noch meine Frau.